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AutorenbildMarkus Müller

Warum Daten und Algorithmen Innovationskiller sind


Ja, ich spüre es förmlich, der/m einen oder anderen digitalen Transformer:in brennt es bereits unter den Fingernägeln und er/sie möchte liebend gerne umgehend einen Shitstorm gegen mich starten. Aber, bitte wartet einige Minuten und lest zuerst die folgenden Zeilen, denn ich selbst bin ein überzeugter «Digitaler». Oder vielmehr ein überzeugter Verfechter des «hybriden Zeitalters». Doch zuerst möchte ich eine Geschichte erzählen.


Wie eine Plattform dem User vorschreibt, was er sehen/hören darf

Seit Jahrzehnten bin ich ein «Musik Afficionado». Ich liebe gute Musik und soweit ich mich erinnern kann, bin ich immer auf der Suche nach neuer Musik gewesen. Ich kaufte mir stapelweise Musikmagazine, schaute «Viva» und «MTV», besuchte Konzerte und vor allem sass ich jeden zweiten Samstag stundenlang im Plattenladen meines Vertrauens und hörte mich durch Dutzende von Tonträgern durch. Das nennt man heute «recherchieren». Irgendwann war ich so weit, dass ich mein riesiges Musikwissen in einem vielbeachteten Musikblogs verewigte, in dem ich über Neuheiten an der Musikfront schrieb. Zumindest so lange, bis der Wordpress-Blog derart gehackt wurde, dass mir nur noch übrigblieb, den professionell designten Blog einzustellen.


Zu einem «Berufsinnovator», der ich einer bin, gehört eine grosse Portion Neugier und Offenheit für Neues. So öffnete ich mich - als Besitzer von Tausenden von CD's und Vinyl-Platten - vor ein paar Jahren auch den Musik-Streamingdiensten und blieb bei Spotify hängen. Die Plattform lässt ihren User:innen jeweils Ende Jahr eine Zusammenfassung über ihr Hörverhalten des vergangenen Jahres zukommen und per Ende 2021 attestierte mir Spotify, dass ich ein «Extreme User» sei, da offenbar 96 % der inzwischen knapp 400 Mio. User:innen die Plattform weniger nutzen würden als ich. Da war er also wieder, der Musik Afficionado. Nicht mehr im analogen, sondern im digitalen Raum. Nicht mehr als Blogger, sondern mittlerweile als Kurator von über zwanzig Playlists auf dem Streaming-Dienst (https://open.spotify.com/user/dukemuller?si=9f2a4869cc9d4ad3). In erster Linie kuratiere ich zwar heute nur noch für mich selbst, doch die Playlists sind offen zugänglich für alle.


Als ich auf Spotify startete, ging es nur wenige Tage und ich folgte rund 100 präferierten Künstler:innen und Bands. Nun muss man wissen, dass die Musikindustrie neue «Releases» in der Regel am Freitag, also pünktlich auf das Wochenende, herausgibt. «New Music Friday», nennt sich das. Schnell lernte ich die Spotify-Funktion «Release Radar» schätzen, die mir jeden Freitag dreissig Release-Tipps auf Basis meiner Hörgewohnheiten und gefolgter Künstler:innen zukommen liess. Als Neuling auf Spotify lernte ich dank meiner Daten, die ich der Streamingplattform überliess und dank deren hinterlegten Algorithmen neue, interessante Bands und Musiker:innen kennen. Algorithmen sei Dank!


Nach einem halben Jahr folgte ich schon zwischen 500 und 1'000 Künstler:innen. Spotify liess meine «New Music Friday»-Liste nun auf wöchentliche 100 Tipps anwachsen. Heute folge ich rund 5'000 Bands/Künster:innen. Die Tippliste ist weitergewachsen, allerdings nicht in gleichem Tempo, wie ich meine Liste der von mir gefolgten Bands ausbaute. Die Liste umfasst heute «nur» 200 Titel. Mittlerweile habe ich wohl so etwas wie den Algorithmus gesprengt. Denn von einigen Künstler:innen werden mir über Wochen hinweg immer wieder Titel aus Alben empfohlen, die ich schon längst gesehen habe. Im Gegensatz dazu werden mir viele Neuerscheinungen, die ich eigentlich gerne angezeigt haben möchte, nicht mehr vorgeschlagen. Ich – als Nutzer – kann den Algorithmus nicht beeinflussen, ich weiss nicht, nach welchen Kriterien er funktioniert. Und ich als «Heavy User» möchte eigentlich heute lieber eine Liste, die chronologisch aufführt, welche Neuheiten es von den Künstler:innen gibt, denen ich folge. Die Algorithmen haben die Macht über mich übernommen, sie spielen mir letztlich nur das aus, was die Streaming-Plattform will. Und nicht das, was ich eigentlich möchte. Das ist nicht bloss bei Streaming-Diensten so, dass ist auch bei Instagram, Twitter oder Facebook und vielen weiteren Plattformen so. Und das empfinde ich als gefährlich! Warum? Einerseits geht so eine umfassende Meinungsbildung, die auf multiplen Perspektiven basiert, zu einem beträchtlichen Teil verloren. Darauf will ich aber nicht weiter eingehen, das wäre ein anderes, ein gesellschaftliches aber auch ein ethisches Thema. Ich versuche nachfolgend vielmehr darzustellen, was es heissen würde, wenn ich die eben beschriebene Erkenntnis in das Thema «Innovation» übertrage.


Daten und Algorithmen in der Innovationsarbeit

Kürzlich wurde ich gefragt, wie ich zu «Data Driven Innovation» (also, datengetriebener Innovation) stehen würde. Die Person, die mich das fragte, erwähnte auch, dass deren vorgesetzte Person Wert auf datengetriebene Innovation lege und Innovation fast nur noch nach diesem Prinzip stattfinde. Meine Antwort war, dass ich zwar Daten und Algorithmen sehr möge, dass mir dabei aber die strategische Intuition zu kurz käme, das Bauchgefühl, das Wissen, das wir über Jahre angehäuft haben. Denn dieses Wissen beeinflusst (oft nicht bewusst) unsere Entscheidungen in positiver Art.


Wie mein «Spotify-Beispiel» zeigt, wird – übertrieben gesagt - Nutzer:innen nur noch mehr von dem ausgespielt, was er/sie sowieso schon kennt. Übertragen auf die Innovation heisst dies sinnbildlich, dass Daten und Algorithmen im Grunde verhindern, dass ich WIRKLICH Neues kennenlerne, weil ich nur noch – es ist ja bequem und unkompliziert –das konsumiere, was mir der EINE Kanal nahelegt. Aber eben, das Neue baut nur auf das auf, was schon da ist.


Selbstverständlich, aus der Perspektive des Anbieters funktioniert das Geschäft! Das Plattform-Business boomt, denn das neue Erdöl heisst «Daten»! Und Daten gibt es bei Social Media- und Streaming-Plattformen mehr als genug abzuholen. Zumindest beim Beispiel Spotify, wo die Umsatzkurve zwischen 2016 und 2021 auffällig steil nach oben zeigt, funktioniert das einwandfrei. Der Umsatz wuchs in der erwähnten Zeitspanne von € 2.9 auf € 9.6 Mia. Dies allerdings noch immer bei einem Verlust von ca. € 0.8 pro Aktie (Quelle: https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/erste-schaetzungen-spotify-gewaehrt-anlegern-blick-in-die-buecher-10933588). Neben dem, dass Daten und Algorithmen für Plattformen ein «Big Business» sind, bietet das Geschäftsmodell auch für den grössten Teil der «normalen» Nutzer – nennen wir sie in diesem Zusammenhang «Mainstream» - fast nur Vorteile. Aber entsteht echte Innovation im Mainstream? Selten, denn die Innovationsmanager:innen von innovativen Unternehmen und Organisationen, die ich kenne, sind in der Regel «Heavy User». Diese Profis wissen mehr als andere, sind tiefer in einer Materie drin als Normalnutzer. Sie kennen meistens auch viele Informationsquellen und Methoden. Und nutzen diese auch.


Wenn ich die Metapher «Spotify» eins zu eins in meine Arbeit als «Innovator» übertragen würde…

…wäre die Streamingplattform für mich eine wunderbare Datenbank, die mir immer wieder die neusten Trends präsentiert. Aber ich behaupte, auf Spotify folgen die Massennutzer blind nur noch dem, was ihnen die Plattform vorschlägt. Dies würde im B2B-Kontext bedeuten, dass eine Firma, die durchschnittlich innovativ ist, sich aus Bequemlichkeit nur noch auf diese eine Quelle konzentrieren würde. Das machen sinnbildlich bereits viele, denn zahlreiche Organisationen bezeichnen als hauptsächliche Quelle ihrer Innovationsaktivitäten ihren kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP). Einem KVP kommt dabei eine ähnliche Bedeutung zu, wie einer Streamingplattform. Sie baut auf dem auf, was schon da ist und verbessert das Bestehende. Aber radikal Innovatives entsteht nicht aus einem KVP.


Nur damit man mich richtig versteht: Eine Inspirationsquelle, die erst noch mit einem Algorithmus auf meine persönlichen Bedürfnisse eingeht, fände ich auch als B2B-Heavy User hervorragend. Daneben würde ich aber in einem Projekt IMMER zwei, drei oder gar vier weitere Quellen oder Methoden einsetzen, um mit verschiedenen Triggern auf neue Ideen zu kommen. Und nun schliesse ich den Kreis zum Titel dieses Beitrages und setze die Hypothese nochmals etwas detaillierter auf: Algorithmen und zu starkes Fokussieren auf Big Data verhindern oft mehr Innovation, als dass sie sie begünstigen!


Gute Innovationsarbeit ist vielfältig, aber auch zeitraubend!

Erfolgversprechende Innovationsarbeit umfasst auch intensive Recherchearbeit. Ich muss in die Welt der Nutzer eintauchen, von ihnen lernen. Erfolgversprechende Innovationsarbeit beinhaltet aber auch die Inspiration, die andere Lebensbereiche und andere Branchen bieten. Es gilt, Bücher, Publikationen und Blogs zu lesen oder Messen zu besuchen. Sich zu überlegen, welche Megatrends die Welt (und damit auch die eigene Organisation) in einigen Jahren beeinflussen könnten. Oder Innovations-Safaris durchzuführen, in denen man «live» von anderen lernt. Es gilt, sich eine hohe Methodenkompetenz zu erarbeiten, damit man bedarfsgerecht die richtigen Techniken einsetzen kann.


Die Konzentration auf Lösungsideen, die ausschliesslich auf Daten basieren, ist gefährlich und setzt genau das ausser Gefecht, womit sich der Mensch (zumindest in der nächsten Zeit) noch von Maschinen unterscheidet. Nämlich der Fähigkeit, kreative Lösungen zu generieren und auch anfänglich abstrakte, unlogische und wilde Gedankenansätze weiterzuentwickeln. Würde das nicht geschehen, wäre radikale Innovation nur noch eingeschränkt möglich.


Vor über zwanzig Jahren durfte ich am Aufbau eines heute national führenden Medienunternehmens mitwirken. Ich kann mich genau erinnern, wie hart die Überzeugungsarbeit anfänglich gewesen ist, datengetriebene Medienagenturen zu überzeugen, dass sie in der Zusammenarbeit mit uns auf ein disruptives Medienprodukt setzen. Der Erfolg gab uns damals recht, die Medienplattform gehört heute zu den führenden des Landes. Doch so richtig durchgestartet ist das Unternehmen erst, als nach zwei Jahren die ersten offiziell beglaubigten Auflage- und Leser:innenzahlen publiziert wurden. Also… Der unbedingte Glaube an Daten hat schon vor zwei Jahrzehnten eine grosse Innovation etwas verzögert.


Ich stehe mit meiner Meinung nicht allein. Mein geschätzter Kollege Jean-Philippe Hagmann ging im Dezember 2021 anlässlich seines TED-Talks in Zürich (https://www.youtube.com/watch?v=vWM8EtnmDoI) der Frage nach, ob das Messen von Daten in vielen Fällen nicht nur nutzlos ist, sondern oft sogar schaden kann. Und ob der Verzicht auf Messungen in unserem Zeitalter der Zahlen nicht sogar ein Wettbewerbsvorteil sein und die Agilität fördern könnte. Es lohnt sich, sich fünfzehn Minuten Zeit zu nehmen, um Jean-Philippe zuzuhören.


Der langen Rede, kurzer Sinn: Wir sollten alle wieder mehr Mut haben, die Maschinen zwischendurch mal Maschinen sein zu lassen und unser gutes altes menschliches Gehirn einsetzen, um uns, die eigene Branche und die Organisation, für die wir arbeiten, vorwärtszubringen. In dem Sinne: Auf sinnvoll eingesetzte Daten und Algorithmen. Aber ganz speziell auf erfolgreiche Kreativitäts-Workshops im noch jungen Jahr!

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